Interview mit Dr. Stefan Redlin: Ausgangsbeschränkung und Sport vereinbaren.
Dr. Stefan Redlin rät als Sportmediziner auch jetzt zu ausreichend Bewegung.
Das Interview führte Simone Theyßen-Speich (Solinger Tageblatt)
Wie schätzen Sie in Ihrer internistischen Praxis die Gesundheitslage der Patienten aktuell ein?
Dr. Stefan Redlin: In unserer kardiologischen Gemeinschaftspraxis halten wir es so, dass wir alle Patienten im Terminkalender telefonisch kontaktieren und aktuelle Beschwerden erfragen. Sind die Patienten beschwerdefrei oder hinsichtlich ihrer Beschwerden stabil, werden die Termine abgesagt. Notfälle und Patienten mit Beschwerden werden selbstverständlich untersucht und behandelt.
Sind die Menschen besorgter als sonst? Gehen sie nur noch in akuten Notfällen zum Arzt?
Dr. Redlin: Bei diesen Telefonaten zeigt sich, dass der ganz überwiegende Teil der Patienten hinsichtlich der aktuellen Situation sehr besorgt ist. Die Absage des Termins wird dankbar zur Kenntnis genommen. Patienten mit gesicherter Covid 19-Erkrankung haben wir in der Praxis bislang nicht gesehen.
Gibt es schon jetzt Auswirkungen, etwa auf das Herz-Kreislauf-System, weil Menschen sich weniger bewegen?
Dr. Redlin: Fehlende körperliche Bewegung führt relativ kurzfristig zu einem Verlust von Muskelmasse und Ausdauerleistungsfähigkeit. Bewegungsmangel ist zwar ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, diese manifestieren sich allerdings erst mittel- und langfristig, sind also jetzt noch nicht zu erwarten.
Bei welchen chronischen Erkrankungen, etwa Diabetes, ist Bewegung besonders wichtig?
Dr. Redlin: Körperliche Aktivität hat einen großen Stellenwert sowohl in der Vorbeugung als auch in der Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen. Das betrifft zum Beispiel Durchblutungsstörungen des Herzens, Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2 und bestimmte Tumorerkrankungen. Menschen mit den genannten Erkrankungen sollten also auch in diesen Zeiten weiterhin körperlich aktiv bleiben. Zu beachten ist dabei allerdings, dass genau diese Patienten oft auch Risikopatienten hinsichtlich einer Covid 19-Erkrankung sind. Die empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen sind also strikt einzuhalten.
Ist Bewegung an der frischen Luft genauso gut wie in der Wohnung, etwa auf dem Heimtrainer?
Dr. Redlin: Bewegung in der Wohnung hat die gleichen gesundheitlichen Vorteile wie draußen. Sport in der freien Natur ist vielleicht abwechslungsreicher und macht mehr Spaß, dafür ist man drinnen keinen Witterungseinflüssen ausgesetzt. Bewegung draußen ist zudem stimmungsaufhellend, weil man mal was anderes sieht. Sport ist da gleichzeitig ein Antidepressivum.
Wie können sich Menschen, die in freiwilliger oder vorgeschriebener Quarantäne sind, in den eigenen vier Wänden sinnvoll bewegen?
Dr. Redlin: Wer ein Fahrrad-Ergometer besitzt, einen Crosstrainer oder ein Rudergerät, kann drinnen ein ähnlich effektives Ausdauertraining wie draußen absolvieren. Damit das nicht zu langweilig wird, sollte man für Ablenkung sorgen: Musik, ein Hörbuch oder auch ein Film können hilfreich sein. Auch ein Krafttraining ist problemlos möglich. Dabei kann mit dem eigenen Körpergewicht, mit Hanteln, Alltagsgegenständen (gefüllte Wasserflaschen) oder dem Deuserband trainiert werden. Im Internet findet man eine Vielzahl entsprechender Anleitungen.
Welche Sportarten empfehlen Sie jetzt für draußen, bei den eingeschränkten Möglichkeiten?
Dr. Redlin: Empfehlenswert sind alle Ausdauersportarten, etwa Walking oder Nordic Walking, Joggen oder Radfahren, allein oder zu zweit. Wichtig ist, dass dabei die Empfehlungen bezüglich Distanz zu Mitmenschen und Hygiene eingehalten werden. Ausdauersportarten sind deshalb geeignet, weil sich die Belastungsintensität gut steuern lässt. Positive Auswirkungen auf das Immunsystem haben moderate Belastungen, hohe Intensitäten sind diesbezüglich eher kontraproduktiv. Man sollte derzeit alles bewusst entschleunigt genießen, auch den Sport.
Ist das Risiko einer Covid 19-Ansteckung oder der Bewegungsmangel die größere Gefahr?
Dr. Redlin: Das ist ein bisschen wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Das Coronavirus ist sicher die aktuelle Gefahr, deshalb sind Maßnahmen wie soziale Distanz und Kontaktverbot so wichtig. Das Risiko des Bewegungsmangels ist eher mittel- und langfristig zu sehen. Bewegungsmangel ist ein Risikofaktor für viele Erkrankungen, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bestimmte Tumorerkrankungen, aber auch Demenz im höheren Lebensalter. Deshalb gehört körperliche Aktivität unabdingbar zu einem gesunden Lebensstil. Die aktuelle Situation bedeutet aber ja nicht, dass wir keinen Sport mehr treiben sollen, ganz im Gegenteil. Der Sport findet nur in anderer Form statt als dies bisher der Fall war. Natürlich ist es so, dass zum Beispiel bei der Arbeit im Homeoffice bestimmte körperliche Aktivitäten, wie zum Beispiel Fuß- oder Radweg zum Arbeitsplatz, wegfallen. Auf der anderen Seite ermöglicht das Homeoffice aktive Pausen mit körperlicher Bewegung. Das macht den Kopf frei und dadurch das Arbeiten effektiver.
Sie betreuen als Sportmediziner auch Kinder und Jugendliche. Welche Probleme sehen Sie dadurch, dass Schul- und Vereinssport nicht stattfinden?
Dr. Redlin: Auch in Vor-Corona-Zeiten haben sich Kinder zu wenig bewegt. Eine im Vorjahr veröffentlichte Studie der WHO zeigte, dass weltweit mehr als 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen die Minimal-Empfehlung von einer Stunde körperlicher Aktivität pro Tag nicht erreichten – mit langfristig möglicherweise ungünstigen gesundheitlichen Folgen. Diese Situation hat sich aktuell sicher verschärft. Aber warum soll man den derzeitigen Schulunterricht zu Hause nicht erweitern um regelmäßige gemeinsame Sportstunden? Das kann ein gemeinsames Lauftraining sein, eine Radtour oder aber auch die Teilnahme an Sportangeboten im Internet. Wir haben nach Praxisschluss mal mit der ganzen Familie einen Spaziergang gemacht –, das hat allen gut getan und hinterher waren alle entspannt.
PERSÖNLICH Dr. Stefan Redlin (57) ist niedergelassener Internist, Kardiologe und Sportmediziner. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.
BERUFLICH Mit Chirurg Dr. Robert Weindl hat er 2010 das Sportmedizinsche Zentrum gegründet, das Sportschüler, Laien-, Hobby- und Profisportler betreut.
Das Interview ist erschien am 6.4.2020 im Solinger Tageblatt, Text Simone Theyßen-Speich, Foto Christian Beier > Link zum Artikel